Auch nach all der Zeit schmerzt der Verlust seiner Schwester und Nicolò ist sich bewusst, dass dieser Schmerz niemals ganz verschwinden wird. Es ist nicht mehr dieselbe Intensität wie noch vor zwanzig Jahren, vielleicht hat er sich aber auch nur daran gewöhnt. An das Loch in seinem Herzen, welches ihr Tod damals hinterlassen hat. Er weiß nicht, ob Bria ihn heute noch lieben würde. Ob er immer noch ihr kleiner wundervoller Bruder wäre, wenn sie wüsste, wer er ist. Wenn sie von Will wüsste. Er versucht daran zu glauben, alles andere würde ihn zerstören. Wie bei seiner Mutter versucht er es so zu sehen, dass sie niemals von ihm enttäuscht sein könnte. Wo sie auch ist, sie kennt ihn nur als kleines Kind. Als den perfekten Jungen, der er sein sollte. Den Jungen, den sie definitiv geliebt hat.

„Du hättest an ihrer Stelle sterben sollen.“
Es waren die letzten Worte, die Palmiro an seinen Sohn gerichtet hatte. Schweigend hatte Nicolò sich umgedreht und war damit aus dem Leben seines Vaters verschwunden. Seitdem herrscht zwischen den beiden komplette Funkstille. Auch besser so. Es reicht, dass Erinnerungen für Albträume sorgen. Dass er die verblassten Spuren noch deutlich auf seiner Haut sehen kann. Einstige Liebe ist nun purer Hass, Angst und Verzweiflung. Nein, Nicolò braucht seinen Vater nicht mehr in seinem Leben, will ihn nie wieder sehen. Er hat versucht der perfekte Sohn zu sein, es hat niemals gereicht. Nie wieder will er mit dem Gift in Berührung kommen, welches Palmiro darstellt.

Auch, wenn Nicolò es niemals sich eingestehen würde - weder damals, erst recht nicht heute -, aber Lester war so etwas wie sein erster Crush gewesen. Oder eher das, wofür er ihn zuerst kannte: sein Auftreten als “Apollo” in der Öffentlichkeit. Die Musikrichtung, die Stimme bei bestimmten Liedern, war es gewesen, was sein 13-jähriges Ich irgendwie fasziniert hatte. Damals sich sofort schuldig dafür fühlen und verdrängen, wie sehr es ihn schon irgendwie nahe an den gay awakening Moment gebracht hatte. (Als würde er gerne daran denken, dass sein zukünftiger Schwiegervater sein erster feuchter Traum war, okay?!). Lester scheint diesen Fakt mit Humor zu nehmen und Nicolò bereits als seinen Schwiegersohn ins Herz geschlossen zu haben, auch wenn die Hochzeit ja noch aussteht. Nicolò selbst hat langsam gelernt zu akzeptieren, welchen Namen Lester in der Musikwelt hat und wer er als Familienvater und Ehemann ist. Manches Mal würde er ihm zu gerne den Hals umdrehen für den Fakt, dass er es zu gut meinend sich in Will und sein Leben einmischt, aber am Ende hat auch er Lester in sein Herz geschlossen. Immerhin ist diese Familie ja schon immer irgendwie sein Schicksal gewesen.

So sehr er seine Mutter und Bria vermisst, alleine Letizias Namen zu denken ist auch nach zwanzig Jahren noch wie ein brennendes Eisen in der Brust zu haben. Das Band aller drei Geschwister war eng, Letizia und Nicolò waren ein Herz und eine Seele. Sie ist die einzige Person, bei der er glaubt, dass sie ihn noch so lieben würde. Als hätte sie irgendwo gespürt, damals schon mit ihren sehr jungen Jahren, dass ihr Bruder nicht wie andere Jungen in der Nachbarschaft ist. Sie hatte ihn mit ihren Puppen spielen lassen, wenn die Eltern nicht in der Nähe waren. Hatte mit ihm zusammen sich Geschichten ausgedacht, in welchen er mal die Prinzessin und sie den Prinzen darstellte. Mit ihr zusammen gab es fast keine Regeln, wie sie sich zu verhalten hatten. Nicolò würde alles geben, sie noch einmal in seinen Armen halten zu können und ihr Will vorstellen zu können. Irgendwo wissend, dass sie ihn lieben würde.

Die Erinnerungen an seine Mutter sind verschwommen, mehr Verbindungen in seinem Kopf, was Gerüche und bestimmte Eindrücke betrifft, als große Erfahrungen. Der Duft von frisch gebackenen Bauletti, ein sanftes Streichen durch seine Haare. Es sind kleine Dinge, die er unbewusst übernommen hat, wie das vor sich hin Summen beim Kochen und Backen. Auch nach all den Jahren vermisst er sie noch, doch ist ein kleiner Teil von ihm auf eine abschreckende Art und Weise froh, dass sie nicht mehr hier ist. So hat er sie positiv in Erinnerung, spürt die Nachwehen ihrer bedingungslosen Mutterliebe ihm gegenüber. Etwas in ihm ahnt, dass auch sie ihn nicht akzeptieren würde, wie er ist. Und diesen Hass würde er nicht ertragen können.

Als Will ihm sagte, dass seine Mutter Naomi heißen und Country Sängerin sein würde, hatte Nicolò nicht sofort die Brücke geschlagen und sie als DIE Naomi Rodriguez in Verbindung gebracht. Auch wenn es nicht einmal im Ansatz seine Musikrichtung war, so kannte er ihren Namen. Flüchtig, doch nicht unbekannt. Im Gegensatz zu Lester fällt es ihm bei Naomi auch leichter, immer wieder zu vergessen, welchen Namen auch sie sich gemacht hat. Schon vor ihrer Ehe und der Rolle als Familienmutter. Auch wenn sie sich selten gesehen haben (Entfernung sei Dank), so war Nicolò doch schnell bewusst, wie sehr Naomi ihn als einen ihrer Leute akzeptiert hatte. Unbewusst hat sie die Rolle in seinem Leben eingenommen, die ihm gefühlt hatte: eine Art Mutter, die ihn bedingungslos liebt. Und auch, wenn er es ihr nicht so zeigen kann, so ist auch sie (nach Will) der wichtigste Mensch mit in seinem Leben.

Leo war die erste Person, welche Nicolò als wahren Freund bezeichnen konnte. Ihre Zeit zusammen war nicht lang gewesen, aber um nichts auf der Welt würde er sie tauschen wollen. Ja, Leo war gerne etwas nervig gewesen, viel zu aufgeweckt und zu motiviert. Und doch hat er bis zum Ende das Herz am rechten Fleck getragen. Long Covid Folgen und die Ansteckung mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber waren aber selbst für Leo zu viel zum Aushalten. Sein Verlust schmerzt Nicolò noch heute.

Manch einen mag es bis heute wundern, dass die beiden noch zusammen sind. Immerhin hat Nico seinen Verlobten nicht selten als significant annoyance vorgestellt. Meistens mit einem bedeutungsschwangeren Augenrollen, die Arme vor der Brust verschränkt. Über die Jahre kam dann die nette Variante sunshine dazu, der herausfordernde Unterton ist bis heute geblieben. Passen tut er wie Faust aufs Auge, denn wenn beide eins sind, dann wie Tag und Nacht. Sonne und Mond. Was viele jedoch nicht wissen, ist folgender Fakt: Nicolòs erster Spitzname für den gebürtigen Texaner war anima mia. Meine Seele. In Will hat Neeks – wie er liebevoll von seinem Verlobten genannt wird - die Person gefunden, mit der er alt werden möchte. Will war sein Anker, als er komplett am Boden war und kurz davor stand, mehr zu verlieren, als ohnehin schon. Der Ältere ist seine Familie, alles, was Nicolò im Grunde noch besitzt. Ja, vielleicht mag es fragwürdig sein, wie die beiden noch immer zusammen sein können nach all den Jahren (auch wenn der gebürtige Italiener genervt seufzt, denn heißt es nicht Gegensätze ziehen sich an?). Und vielleicht ist seine Fixierung auf Will nicht wirklich gut. Doch beide sind glücklich miteinander. Auch wenn sie sich streiten, finden sie immer wieder zueinander. Reicht das nicht? Für seinen Verlobten würde Nicolò alles tun, ohne ihn will er nie wieder sein.